Während meiner jüngsten Tunesien-Reise habe ich mich erstmals mit den Geschehnissen in Tunis während des 2. Weltkriegs befasst. Da kommt mir „Piccola Sicilia“ gerade recht. Der 2018 erschienene Roman des Münchner Autors Daniel Speck lässt diese Zeit wieder lebendig werden. Um es vorweg zu nehmen: Selten hat mich ein Buch so gefesselt und mitgerissen.

Marsala, Sizilien

Die Geschichte in „Piccola Sicilia“ nimmt in Sizilien Fahrt auf. Doch das ist eigentlich ein Zufall. Im Hafenort Marsala trifft im Herbst eine bunt gemischte Menschenschar ein. Anlass: Der Schatzsucher Patrice hat das Leitwerk einer Ju 52 aus dem Meer gezogen. Der Rest des Wracks wird noch auf dem Meeresboden vor Marsala vermutet.

Es soll das letzte Flugzeug gewesen sein, das am 7. Mai 1943 in Tunis in Richtung Europa startete, bevor die Alliierten den Flughafen einnahmen. An Bord könnte sich neben Soldaten der Wehrmacht ein bisher verschwundener Schatz befunden haben. Sechs Kisten, prall gefüllt mit Schmuck und Wertgegenständen aus jüdischem Besitz.

Unter den Schaulustigen in Marsala ist die Archäologin Nina aus Berlin. Ihr geht es – wie den anderen Menschen, die sich in einem Hotel versammelt haben – nicht um den Schatz. Sie sucht Spuren ihres Großvaters, der als Kameramann der Wehrmacht nie vom Afrika-Feldzug zurückkehrte.

Piccola Sicilia, Tunis

Ehe ich mich versehe, finde ich mich 200 Kilometer südlich der sizilianischen Küste wieder – im Tunis der 1930er-Jahre. Genauer gesagt in Piccola Sicilia, einem Einwandererviertel am Hafen. Hier verlebt die jüdische Familie Sarfati unbeschwerte und glückliche Jahre in einer multikulturellen Gemeinschaft.

„Hier unten am Meer vermischten sich die Glocken von Sant’Agostino mit dem Ruf des Muezzin und den Gebeten der vierzehn Synagogen, nicht wetteifernd, sondern nebeneinander wie die verschiedenen Sprachen: Italienisch, Französisch und Arabisch in seinen beiden Dialekten, dem er Muslime und dem der Juden.“
Aus „Piccola Sicilia“

Daniel Specks Art zu Schreiben saugt mich regelrecht ein in die heile Welt von Piccola Sicilia. Ich kann das bunte Leben in den engen Gassen, der palmengesäumten Avenue de Carthage und auf den Plätzen vor den Kirchen förmlich sehen, hören und riechen.

Tunisgrad

An der Bildhaftigkeit und Anziehungskraft der Geschichte ändert sich nichts, als die Deutschen den grausamen Krieg von Europa nach Tunis tragen. Mit wachsendem Entsetzen verfolge ich, wie die Besatzer den gesellschaftlichen Zusammenhalt mit deutscher Gründlichkeit zerstören und insbesondere Juden drangsalieren. Und ich erlebe mit, wie sich die militärische und menschliche Katastrophe, die man in Deutschland Tunisgrad nennt, anbahnt.

Die Ereignisse während des Kriegs und danach sind der Rahmen für ein Familiendrama, für eine verbotene Liebe und schwierige Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sowie einem Mann und einer Frau. Alles hätte sich zu einer anderen Zeit so nie zugetragen.

Daniel Speck erzählt von Menschen, die sich unsichtbar gemacht, selbst verloren und wiedergefunden haben. Von Getriebenen im turbulenten Strom einer wirren Zeit, in der nichts ist, wie es scheint. Kuriose Zufälle und überraschende Wendungen, die über das Schicksal der Protagonisten entscheiden, Wechselbäder der Gefühle und einzig die Gewissheit, dass alles ungewiss ist, prägen diesen Roman.

„Der Kern jeder guten Story, das wusste schon Aristoteles, ist Transformation. Am Ende ist der Held ein anderer geworden als der, der er am Anfang war“
Daniel Speck in „Terra Mediterranea – Eine kulinarische Reise ums Mittelmeer“

Zwar geht es an der zitierten Stelle aus „Terra Mediterranea“ um die Begegnung unterschiedlicher Identitäten, um die Herausforderung, eigene Grenzen zu spüren und zu überschreiten. Um nichts anderes geht es jedoch auch in „Piccola Sicilia“.

Daniel Speck

„Piccola Sicilia“ basiert auf einer wahren Begebenheit. Auch Einzelheiten der Geschichte, beispielsweise dass Araber Juden vor den Nazis versteckten, entstammen dem wahren Leben, wie der Autor der Süddeutschen Zeitung in einem Interview sagte. „Solche unbekannten Geschichten möchte ich vor dem Vergessen bewahren“, wird Daniel Speck an der gleichen Stelle zitiert.

Der Sohn eines tunesischen Arztes baut mit seinen Büchern Brücken zwischen den Kulturen. Dank Daniel Speck durfte ich in eine Welt eintauchen, von der ich bisher keine Ahnung hatte. Ich habe gelernt, was die Khamsa, die „Hand der Fatima“, ist und was das arabische Wort „mektoub“ bedeutet. Mehr noch: Mein Weltbild würde durch „Piccola Sicilia“ ein stückweit zurechtgerückt.

Doch die Reise der Helden aus „Piccola Sicilia“ geht weiter. Nachdem ich das Buch beendet habe, breitet sich eine merkwürdige Leere in mir aus. Wie nach einer Prüfung, auf die man sich lange vorbereitet hat. Ich muss wissen, wie die Geschichte weitergeht. In der „Piccola Sicilia“-Fortsetzung „Jaffa Road“ erfahre ich es. Bis das Buch eintrifft, werde ich Daniel Speck und Giò Martorana auf ihrer kulinarischen Reise rund ums Mittelmeer begleiten, sprich „Terra Mediterranea“ lesen. Um Entzugserscheinungen vorzubeugen.

Daniel Speck
„Piccola Sicilia“
ISBN 978-3-596-70261-9

Beitragsfoto: Autor Daniel Speck in La Goulette, dem früheren Piccola Sicilia, Tunis. Foto: Giò Martorana